WO DER PHANTASIE FREIER LAUF GELASSEN WIRD...
von Jacques Leveau
Im Laufe dieser vierten Etappe unserer Entdeckungsreise werden wir unserer Einbildungskraft in völliger Freiheit die Zügel schleifen lassen können. Kaum ein anderer Landstrich ist in der Tat mehr als die Bretagne dazu angetan, die Phantasie anzustacheln und die Vorstellungskraft zu größeren Leistungen anzuregen. Nun aber sachte! Treten wir auf Zehenspitzen in die Welt des Phantastischen ein, auf dass der Zauber nicht entwischt!
Im Inneren des Landes zwischen Sizun, Huelgoat, Pleyben
und Landévennec liegt der Naturpark der Region Armorika,
in dem sich unter anderem der Wald von Huelgoat erstreckt.
Dieser sieht wie ein unermesslicher Flickenteppich aus, der
aus einem grünen Pflanzengewirr, miteinander verflochtenem
Geäst und undurchdringlichem Dickicht zusammengesetzt
ist, in welches kleine Seen, Teiche und Bäche geheimnisvoll
spiegelnde Flächen hintupfen. Immer wieder ist dieser
grüne Ozean mit Granitblöcken durchsetzt, deren
Ursprung auf verschiedene Weise ausgelegt wird: Fromme
Geister behaupten, hier hätten sich der Erzengel Gabriel und
der Teufel im Kampf um einige Menschenseelen mit den
Felsungetümen beworfen. Für Heldensagen schwärmende
Menschen glauben eher, der Riese Gargantua habe diese
gewaltigen Felsen überall in die Landschaft hineingeschleudert,
um seine Wut an den Bauern der Gegend auszulassen.
Vielleicht wollten ihn diese Bauern des Schatzes berauben,
der in der sogenannten „Teufelsgrotte“ vom leibhaftigen
Teufel bewacht werden soll... Sogar der „Silberfluss“ spielt
hier Verstecken: Einmal stürzt er in ein sehr tiefes Felsloch
und kommt erst 150 Meter weiter wieder zu Tage. Auch in
diesem Felsloch spukt es übrigens. die schöne Ahès-Dahut,
die Tochter Gradlons, des Königs von Cornouaille, die allen
möglichen Ausschweifungen frönte und einen sehr starken
nächtlichen Verbrauch an Liebhabern hatte, war es
gewohnt, morgens, wahrscheinlich unbefriedigt, ihre ausgelaugten
Freier in diese Art natürliches Verlies zu werfen...
Zum Glück brauchen die Freunde des Angelsports keinen so
überspannten Gedanken nachzuhängen. Sie können vollkommen
nüchtern bleiben und sich entweder für die
Forellen in den Flüssen oder für die Karpfen und Barsche im
See des Zauberwaldes entscheiden.
In Guimiliau kommen der Kalvarienberg aus den Jahren
1581-1588 und die über 200 Figuren, die ihn, aus-
schmücken der Vorstellungsgabe der Besucher zu Hilfe, wenn sie
andächtig versuchen, Christi Leidensweg im Geiste nachzuvollziehen. In der Bretagne sind die meisten dieser
Kreuzigungsgruppen in Pestzeiten entstanden, in der
Hoffnung, durch dieses fromme Werk die Seuche zu bannen.
Genauso wollte der bretonische Pfarrer, der von der
Plattform des Kalvarienberges wie von der Kanzel herab eine
Predigt an die Gemeinde hielt, jede Sünde und jedes Laster
von seinen Pfarrkindern fernhalten. Er nutzte dabei die
abschreckende Wirkung aus, die von den in Stein gehauenen
Darstellungen ausging. Der Pfarrer wies nämlich auf Christi
Leidensgeschichte hin oder hob die schreckliche Not derjenigen
hervor, die wegen ihres frevelhaften Lebenswandels
die ewigen Höllenqualen ausstehen mussten.
Nach diesem Abstecher ins Landesinnere wenden wir uns
wieder der Küste zu, und zwar den schönen Stränden von
Brignogan-Plages und der Landzunge von Pontusval, wo wir
die obligaten Anhäufungen seltsam gestalteter Felsen sowie
beinahe furchterregende Granitungetüme wiedertreffen, die
sich dicht an den Häusern erheben. Es zieht uns aber
unwiderstehlich weiter an die bretonische Steilküste, die
sogenannte „Corniche bretonne“ und an die „Côte de Granit
Rose“ (die rosa Granitküste) zwischen Trégastel und
Ploumanach.
Eine Oase der Stille: Kann sich der Ermüdete einen günstigeren
Ort ausdenken, um neue Kraft zu schöpfen, als diese
zauberhaften Strände, deren Verschmutzung geradezu frevelhaft
wäre? Kann sich der Kummervolle einen weicheren
Teppich feinsten Sandes wünschen, um mit sich selbst ins
Reine zu kommen und wieder zur inneren Ruhe zu finden?
Ein idealer Tummelplatz der Phantasie: Wo könnte man seinen
Träumen besser nachhängen als vor solch einer kleinen
Bucht, die mit unzähligen Felsen gesäumt ist?
Die meisten davon sind übrigens so vielgestaltig, dass sie jeden einfallsreichen Spaziergänger auf die Idee bringen, sie mit einem erfundenen Eigennamen zu bezeichnen. So wird man am Strand von Trégastel nacheinander am „Korkenzieher“, am „Häufchen Pfannkuchen“ und am „Totenkopf“ vorbeikommen, bevor man endlich vor „dem ewigen Gottvater“ stehenbleibt. Auf die gleiche Weise ist die „rosa Granitküste“, die zweifellos über die schönste Ausstellung naturgeschaffener Skulpturen der ganzen Welt verfügt, ein von Wind, Wetter und Wasser ins Leben gerufenes Freilichtmuseum. Dort können die erfinderischsten Geister um die Wette rätseln, was die zahllosen Felsengestalten darstellen. Ob Robben, Seeelefanten, Kaninchen, Pilze, Hexen, behelmte Krieger, Abgötter oder griechische Hopliten, hier nimmt für die Phantasie die Auswahl kein Ende. – Eine Stätte der Sehnsucht: Von den bretonischen Küsten aus sehnte sich von jeher eine Unzahl Menschen nach dem weiten Meer, wie zum Beispiel zu Zeiten Colberts, des Finanzverwalters König Ludwigs XIV., als die mächtigen Handelsschiffe der „Westindiengesellschaft“ mit vollen Segeln nach Akadien, dem damaligen französischen Teil Kanadas, fuhren. Akadien galt nämlich im 17. Jahrhundert für viele abenteuerlustige Auswanderer als das Gelobte Land, „darin Milch und Honig fließt“ und in dem Friede und ungestörte Eintracht zwischen den Menschen herrschten, was ja gerade heute in so vielen Ländern unserer Welt dringend Not täte. Zum Glück wollte es auch fast genau ein Jahrhundert später ein holdes Schicksal, dass 1765 dieselben Akadier, die von den Engländern aus ihrer neu errungenen Heimat vertrieben und in die Flucht geschlagen worden waren, nach einer gefahrvollen Überfahrt wieder in der Bretagne Zuflucht fanden, und zwar auf der Insel Belle-Ile-en-Mer