ZAUBER, ZARTHEIT, DAUER ...
von Jacques Leveau
„Meister, hier ist gut sein. Lasset uns drei Hütten machen: Dir eine, Moses eine und Elia eine.“ - Evangelium nach Lukas. Sicher ist sicher. In solch unmittelbarer Nähe der „Bucht der Hölle“, aus welcher sich bei Sturm, so heißt es, das Gejammer und das Gestöhn der verstorbenen Sünder erheben soll, tut einer gut daran, sein Haus möglichst fest im Boden zu verankern.
Der Besitzer des „Hauses zwischen den Felsen“ hat diese
Aufgabe meisterhaft bewältigt, als er sein Eigentum zwischen
zwei riesenhafte Granitblöcke eingeklemmt hat,
einem zwischen gewaltige Buchstützen gezwängten dicken
Wälzer ähnlich. Wäre der wohlbekannte Frosch in der Fabel
so hart flankiert gewesen, so hätte er allerhand Mühe
gehabt, sich ausreichend aufzublähen, um dem Ochsen an
Dicke gleichzukommen!
An einer richtigen Stütze hat es aber allem Anschein nach
der mit kleinen Bleiplatten bedeckten Turmspitze der
Kapelle in Saint-Gonéry gefehlt, weist sie doch seit 1612
eine merkwürdige Neigung auf. Bei starkem Wind weiß sie
wahrscheinlich nicht mehr so recht, wo ihr der Kopf steht...
In der Kapelle selbst unter dem Kirchturm befinden sich das
Grabmal und der Steinsarg des Heiligen Gonéry, eines
Einsiedlers aus dem 6. Jahrhundert, der das Evangelium in
der Umgegend verkündigte. Es war früher bei den bretonischen
Seeleuten und Soldaten vor einer langen Reise Sitte,
dem Grab des Heiligen eine Handvoll Erde zu entnehmen,
die sie dann nach ihrer Rückkehr wieder an Ort und Stelle
zurückbrachten. Wie so manche Bereiche der Menschenseele
ist Heimatverbunden-heit, wie man sieht, nicht immer frei
von Aberglauben.
Nun geht unsere Reise langsam dem Ende zu, aber das
Wunderland Bretagne hat seinen Schatz an reizenden,
geschichtsträchtigen Orten noch lange nicht erschöpft. Wir
werden jetzt Städtebilder bewundern, die sich einander an
Schönheit und Eigenartigkeit nur so überbieten.
Dinard, das der Stadt Saint-Malo gegenüber an der
Mündung des Flusses Rance in den Ärmelkanal liegt, zeugt
von Vornehmheit und mondänem Gepräge und scheint
heute noch auf großem Fuß zu leben. Wie hätte denn diese
Stadt auch vergessen können, dass im Jahre 1868 Kaiser
Napoleon III. in eigener Person die Badesaison feierlich eröffnet hatte und dass am Ende des 19. und zu Beginn des
20. Jahrhunderts, nachdem der edle Gast mit gutem
Beispiel vorangegangen war und
seiner Gattin Eugénie zu
Ehren eine herrliche Villa hatte bauen lassen, prunkvolle
Patrizierhäuser nur so aus dem Boden der Stadt schossen? Was die letzten drei Städte betrifft, so kehren sie jeweils
eines der drei verschiedenen Hauptmerkmale des
Mittelalters hervor, das Zunftwesen, die Befestigungen und
die Wallfahrtskirche.
Die Altstadt von Dinan dehnt sich am steilen Rand eines
Plateaus aus, das den Fluß Rance um 75 Meter überragt. All
diejenigen, die für die Baukunst des 15. und 16. Jahrhunderts
schwärmen, werden sich an den auf Holzpfeilern
ruhenden Portalvorbauten, an den Häusern mit vorspringendem
Erker und den vielen holzgetäfelten Fassaden und
Giebeln der Fachwerkhäuser, die hervorragend wiederinstandgesetzt
worden sind, nicht satt sehen können. In den
kleinen Läden und Werkstätten, die heute noch in manchen
Vierteln zu finden sind, wohnen und arbeiten Weber,
Bildhauer, Glasbläser u. a. m.
Der Heilige Malo (Saint Malo), der im 6. Jahrhundert die
Einwohnerschaft von Aleth (Saint-Servan) zum Christentum
bekehrte und zum Bischof geweiht wurde, kam aus Wales.
Wegen der häufigen Einfälle der Normannen mussten er und
seine Schützlinge auf einer damals noch unbewohnten
Insel, dem zukünftigen Saint-Malo, Zuflucht suchen, weil
sich da der Ort besser verteidigen ließ. Als dann 1144 die
Bevölkerungszahl viel größer geworden war, wurde das
Bistum Aleth in die nunmehr Saint-Malo genannte Ortschaft
endgültig verlegt. Die Bischöfe, denen die Stadt gehörte,
ließen sie alsbald befestigen, so dass sie sehr lange von
allen Wirren und Rivalitäten des Hinterlands verschont blieb
und sich sogar zur Zeit der Religionskriege einige Jahre lang
zur Republik erklären konnte. Daß die Bewohner von Saint-
Malo mit der Zeit einen gewissen Hang zur Eigentümlichkeit
und zum Partikularismus entwickelt haben, rührt vielleicht
gerade daher:
„Weder Franzose noch Bretone: Aus Saint-Malo bin ich.“
Ehre, wem Ehre gebührt! Unser Endziel, der Mont-Saint-
Michel, setzt unserer Reise die Krone auf...
Zur Zeit des Urchristentums ist der Mont-Saint-Michel nur
ein unermesslich großer Fels von etwa 900 Meter Umfang
und 80 Meter Höhe, der von Dornengestrüpp und allerlei wildem
Gesträuch überwuchert ist und einen so finsteren,
schauerlichen Anblick bietet, dass er den Namen „Mont-
Tombe“, d.i. “Berg des Grabes“ trägt. In dem ihn umschließenden
Wald Scissy wird von den Urbewohnern des
Landstrichs der persische Gott des Lichtes, Mithra, verehrt.
Zu Beginn des 8. Jahrhunderts, in den Jahren 708 oder
709, erscheint der Erzengel Michael dem damaligen Bischof
von Avranches in der nahe gelegenen Normandie, dem
Ehrwürdigen Aubert, so lange im Traum, bis dieser sich bei
der dritten Erscheinung bequemt, eine dem Engel geweihte
Kapelle auf dem „Berg des Grabes“ bauen zu lassen. Schon
bald danach geschieht ein weiteres Wunder: Infolge einer
Sturmflut, eines Erdbebens oder eines gewaltigen
Erdrutsches wird der Wald Scissy verschlungen, und der
„Mont“, der nunmehr vom Festland abgetrennt ist, wird
somit endgültig zur Insel. Im Jahre 1017 beschließen die
Benediktiner, ganz oben auf dem Berg eine Basilika von 80
Meter Länge zu bauen. Die titanenhaften Bauarbeiten an
der romanischen Abtei werden sich über hundertfünfzehn
Jahre erstrecken. Vom dreizehnten Jahrhundert an bis zum
sechzehnten Jahrhundert wird dann die Abtei um wunderschöne
Säle und Gebäude in gotischem Stil erweitert.
Schließlich ist an dieser gesegneten Stelle ein Wunder der
Baukunst entstanden, ein wahres Meisterwerk der
Menschheit, dessen Entwicklung von der romanischen
Schlichtheit zur gotischen Feinheit und Unbeschwertheit
sich vortrefflich an den verschiedenen Teilen des Klosters
ablesen lässt.
Angesichts dieses „Wunders des Abendlands“ möchte mancher
Wallfahrer einfach nur still verharren und
„... zum Augenblicke sagen:
Verweile doch! du bist so schön!“
Johann Wolfgang von Goethe, „Faust“