IM DEPARTEMENT FINISTERE...„AN DEN GEHEIMNISUMWOBENEN GRENZEN DER WESTLICHEN WELT“
(nach J. M. de Heredia)
von Jacques Leveau
Im Laufe unserer zweiten Etappe werden wir schon bald aus dem Departement Morbihan ins Departement Finistère hinüberwechseln, das in großer Anzahl, wie übrigens die meisten anderen Gegenden in der Bretagne auch, drei Gegebenheiten birgt, die für den Schutz und die Sicherung des Menschenlebens unentbehrlich sind: Befestigungswerke und Leuchttürme, um das Leben der Menschen zu retten, Kirchen und andere Kultstätten, um deren Seele zu erlösen.
Bereits zur Zeit der Kelten vom 5. Jahrhundert vor Christi
Geburt bis zum Anfang unserer Zeitrechnung wickelte sich
an dem Standort, wo heute die Stadt Port-Louis liegt, ein
ziemlich reger Schiffsverkehr ab. In seinem Buch: „De bello
gallico“ schreibt Cäsar selbst über die Veneter, die sich an
diesem Küstenstrich niedergelassen hatten: „Dieses Volk
besitzt die größte Anzahl Schiffe und seine Flotte treibt
Handel mit dem Großen Britannien.“ Erst in der zweiten
Hälfte des 17. Jahrhunderts haben das Schicksal und die
Geschichte der Stadt Port-Louis einen Streich gespielt und
sie wieder in den Schatten gestellt. Auf eine Entscheidung
von Colbert hin, der damals (1668) Staatssekretär bei der
Marine des Königs Ludwig XIV. war, wurde der gesamte
Hafenbetrieb auf das andere Ufer des Scorff verlagert
wurde; von jener Zeit an wurden in der Tat die meisten
Handelsschiffe der „Französischen Indiengesellschaft“ auf
dem rechten Ufer dieses Flusses direkt der Stadt Port-Louis
gegenüber auf Stapel gelegt. Der Bau eines von ihnen
namens „Die Sonne des Orients“ (Le Soleil d’Orient) im
Jahre 1669 wird übrigens der neu entstehenden Stadt zu
ihrem Namen „Lorient“ verhelfen. Diese Stadt ist heute
„der erste französische Fischereihafen in Bezug auf den
Wert und die Vielfalt der ausgeladenen Fischmenge.“ (Guide
Michelin 1990).
Lasst uns jetzt unsere Reise fortsetzen, und zwar nach
Concarneau im Departement Finistère! Wieder einmal erinnern
die Türme, Zinnen, Wehr-gänge und sonstigen
Befestigungen der berühmten „eingeschlossenen Stadt“ von
Concarneau, jenes in granitene Wehrmauern eingezwängten
Inselchens, daran, dass diese Stadt jahrhundertelang, insbesondere vom Ausbruch des Hundertjährigen Krieges an
(1341),
immer wieder von den Bretonen, den Engländern
oder den Franzosen nacheinander aufs neue eingenommen,
besetzt, wieder geräumt und zurückerobert wurde. Man
musste den unentbehrlichen Vauban – wen denn sonst! –
einmal mehr abwarten, bevor dieser Ort, der ursprünglich
hinter einfachen Gräben und Palisaden verschanzt war, in
eine unbezwingbare Festung verwandelt wurde. Für die
Liebhaber militärischer Baukunst, die für alles geschichtliche
schwärmen und sich in die Atmosphäre vergangener
Jahrhunderte leidenschaftlich gern versetzen, werden
längere Spaziergänge innerhalb dieses meerumspülten eingeschlossenen
Stadtviertels ein genussvolles Vergnügen
sein.
Muss es denn so seltsam anmuten, wenn Feldherren selber
häufig auch für die Sicherheit und das Leben anderer
Menschen Sorge tragen? Wer hätte sich je vorstellen können,
daß der Leuchtturm von Eckmühl, der 1897 auf der
Halbinsel Penmarch erbaut wurde, in enger Beziehung zu
einem anderen Kämpfer steht, nämlich zu einem der besten
Offiziere Kaiser Napoleons I., dem berühmten Louis-Nicolas
Davout, Marschall von Frankreich, Herzog von Auerstädt und
Fürst von Eckmühl, der am 14. Oktober 1806 den preußischen
Truppen bei Jena zu deren größter Verwirrung in die
Quere kam... Und doch hat in der Tat die Tochter dieses
Kriegers, die Marquise von Blocqueville, dank einer großartigen
Spende den Bau jenes Riesenwächters von 65 Meter
Höhe ermöglicht. Diese Anekdote beweist einmal mehr, wie
sehr die jeweilige Geschichte und Kultur der verschiedenen
europäischen Länder ineinander verschlungen sind und einander
überschneiden und bereichern.
Überall in der Bretagne findet man Kapellen, die oft wie
Veilchen im Verborgenen blühen, weil darin vielleicht nur
einmal im Jahr eine Heilige Messe gelesen wird oder sie
auch nur einmal im Jahr anlässlich eines feierlichen
Umzugs („un Pardon“) im Rampenlicht stehen. Der
Kalvarienberg, dessen nüchterner Sockel und lebendig
anmutende, aus Stein gehauene Figuren vor der Kapelle der
Muttergottes „Notre-Dame-de-Tronoën“ prangen, ist die älteste
Kreuzigungsgruppe in der Bretagne. Die Bildhauer
brauchten zehn Jahre (1450–1460), um anhand von 100
Figuren eine äußerst wirklichkeitsnahe Darstellung von
Szenen aus Christi Kindheit und Leidensweg dem Stein zu
entlocken. Im ganzen altbretonischen Land (Le pays bigouden)
wimmelt es nur so von Kapellen: die Kapellen zu
Penhors, zu Plovan, zu Languidou und zu Languivoa, in
welcher letzteren übrigens am 15. August anläßlich des alljährlichen
Umzugs die Gläubigen zu Füßen der das
Christkind an der Brust stillenden Heiligen Jungfrau niederknien
und beten.
Altbretonisch ist die ganze Gegend bis in die Seele hinein.
Hier kann man noch Frauen in Tracht begegnen, die die
überlieferte Haube tragen, genauso wie zu Zeiten von Yann
und Gaud, jenen jungen Verliebten aus Pierre Lotis Roman:
„Islandfischer“, die auf der Granitbank vor dem Haus saßen
und es nicht wagten, einander ihre leidenschaftiche Liebe
zu erklären, so starr und rigoros waren damals die
Anstandsregeln. Genauso hart und starr sind übrigens auch
die Felsenküsten in der Umgebung, ausgenommen an manchen
Tagen, wenn es abends gerade zu dämmern anfängt:
sie scheinen dann so friedlich zu sein, dem Einschlafen so
nahe, daß sich keiner vorstellen kann, wie sie sonst auch
vor Wut schäumen und vom Orkan wild aufgewühlt werden können.